(Aktualisiert) Offener Brief an das Göttinger Fernwehfestival

Offener Brief an das Göttinger Fernwehfestival,
Herrn Matthias Hanke und Lichtblicke e.V.

sowie
das Präsidium der Universität Göttingen,
Prof. Dr. Reinhard Jahn

 

Göttingen, den 16.01.2020

Sehr geehrter Herr Hanke,
sehr geehrter Herr Prof. Dr. Jahn,
sehr geehrte Damen und Herren,

wir fordern sie hiermit auf, Stellung zu beziehen zu den kolonialverherrlichenden Aussagen, die auf dem diesjährigen Göttinger Fernwehfestival getätigt wurden und entsprechende Konsequenzen zu ziehen. Konkret beziehen wir uns auf den Vortrag zu Südafrika/Namibia der Organisation Abendrot Reisen GmbH, gehalten von der Geschäftsführerin Kirsten Schlimm und ihrer Mitarbeiterin Sandra Wejda am Sonntag, den 12.01.2020.

Wir, eine Gruppe Studierender und ehemaliger Studierender, hatten uns auf einen interessanten Vortrag gefreut und wurden stattdessen mit Kolonialrassismus konfrontiert. Frau Schlimm berichtete zu Beginn ihres Vortrags von ihrer Familiengeschichte, die stark durch „Auswanderungen“ nach Namibia („damals noch Südwest“) geprägt sei. Sie zeichnete ein Familienidyll von Großvätern, die nach dem Ersten bzw. Zweiten Weltkrieg ausgewandert seien – ohne aber über die Umstände etwas zu erwähnen.

Während des restlichen Vortrags zeichnete Frau Schlimm ein Bild primitiver Namibier_innen, die angeblich sämtlich „ursprünglich“ leben würden und die einzig ihre „tollen Singstimmen“ miteinander verbinde. Schwarze Menschen wurden fast ausschließlich als Bedienstete dargestellt (so vorher auch schon im Vortrag zu Südafrika von Frau Wejda), bei denen man Souvenirs kaufen könne oder die sich selbstverständlich um das Wohl der Tourist_innen kümmern würden (im Südafrika-Vortrag mitunter auch in Uniformen, „genau wie in den 20er Jahren“). Die namibische Bevölkerung wurde durchgängig bezeichnet als „glücklich Deutsch zu sprechen“, während die Adler-Apotheke in Swakopmund mit stilisiertem Reichsadler als Firmenlogo ein „beliebter Ort“ sei. Frau Schlimm pries die koloniale Architektur im Ort an und empfahl, unbedingt einen „Kolonialkaffee“ trinken zu gehen. Swakopmund sei schließlich ganz „in deutscher Hand“.

An keiner Stelle wurde die Kolonialherrschaft als etwas Negatives dargestellt, Kritik daran geäußert oder gar der Völkermord der deutschen Kolonialtruppen an den Nama und Ovaherero erwähnt. Stattdessen wurden die Kolonisator_innen als „Siedler“ bezeichnet – so als hätte es dort vorher keine Menschen, sondern nur zu eroberndes Land gegeben.

Zum Schluss der Veranstaltung wurde groteskerweise das sogenannte „Südwesterlied“ von Frau Schlimm angestimmt und in voller Länge gesungen. Das Lied wurde 1937 für den Deutschen Pfadfinderbund Namibia geschrieben und fungiert bis heute als seine Hymne. Bereits eine kurze Recherche zeigt, dass der Bund schon 1937 in die Hitlerjugend integriert war. Seine Flagge war eine Variante der Reichskriegsflagge. Um diese in erschreckender Weise rassistischen und Kolonialismus verherrlichenden Aussagen nicht unwidersprochen zu lassen, konfrontierten wir Abendrot Reisen im Nachgang des Vortrags mit dem Gehalt ihrer Aussagen. Alle Mitarbeiterinnen zeigten Unverständnis, gingen in Verteidigungshaltung und lehnten eine Diskussion mit uns explizit ab. Sie bezeichneten uns als „Femegericht“ und setzten uns damit in die Nähe von rechten politischen Mordaktionen. Außerdem wurden Sie, Herr Hanke, hinzugeholt. Sie erteilten uns, ohne unsere Beschwerde überhaupt anzuhören, unmittelbar ein Hausverbot mit dem Hinweis, dass dieser Raum heute denen gehöre, die dafür gezahlt haben – und wenn diese sich „unwohl“ fühlten, würde das ausreichen „für ein Hausverbot im gesamten zentralen Hörsaalgebäude“.

Wir fordern eine öffentliche Distanzierung des Fernwehfestivals von Abendrot Reisen. Sollte die Organisation sich nicht intensiv mit ihrem Rassismus auseinandersetzen, sich entschuldigen und ihre Reisen überarbeiten, dürfen sie nicht wieder Teil des Festivals sein. Geld, das von Abendrot Reisen an das Fernwehfestival gezahlt wurde, sollte an antirassistische Organisationen gespendet werden. Wir schlagen z.B. das Bündnis „Völkermord verjährt nicht!“ vor.

Wir fordern die Universität auf, sich zu den Geschehnissen zu positionieren, klar Stellung gegen Rassismus und Kolonialverherrlichung zu beziehen und ihre Räume für eine Veranstaltung dieser Art nicht noch einmal zur Verfügung zu stellen.

 

Maren Aldermann
Franziska Brugger
Anna Domdey
Liz Mathy
Fenna Schumacher
Simon Volpers
Friederike Wansing
Till Zander

 

Unterstützende:

Prof. Dr. Ravi Ahuja, Centre for Modern Indian Studies
Eva Bahl, M.A., Methodenzentrum Sozialwissenschaften
Dr. Tanya Behne, Georg-Elias-Müller-Institut für Psychologie
Prof. Dr. Regina F. Bendix, Geschäftsführende Direktorin, Institut für Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie
Dr. Peter Birke , Institut für Soziologie
Ronja Demel, M.Sc. Georg-Elias-Müller-Institut für Psychologie
Neele Engelmann, M.Sc., Georg-Elias-Müller-Institut für Psychologie
Dr. Daniela Heitzmann, Studienfach Geschlechterforschung
Dr. Jonas Hermes, Georg-Elias-Müller-Institut für Psychologie
Prof. Dr. Sabine Hess, Institut für Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie
Bettina Hucke, Institut für Zoologie und Anthropologie
Dr. Christine Klapeer, Studienfach Geschlechterforschung
Dr. Klaas Kunst, Sozialwissenschaftliche Fakultät
Dr. Michael Markert, Institut für Ethik und Geschichte der Medizin
Prof. Dr. Nicole Mayer-Ahuja, Soziologisches Forschungsinstitut Göttingen
Dr. Maria Pohn-Lauggas, Methodenzentrum Sozialwissenschaften
Marie Ritter, M.Sc., Georg-Elias-Müller-Institut für Psychologie
Prof. Dr. Gabriele Rosenthal, Methodenzentrum Sozialwissenschaften
Felicitas Sedlmair, M.A., Georg-Elias-Müller-Institut für Psychologie
Katharina Teutenberg M.A., Wissenschaftliche Mitarbeiterin
Annika Ziereis, M.Sc., Georg-Elias-Müller-Institut für Psychologie

AK Antirassismus der Universitätsmedizin Göttingen
AK Asyl Göttingen
Alternative Linke Liste Göttingen
Basisdemokratische Linke Göttingen
Basisgruppe Germanistik Göttingen
Basisgruppe Geschichte Göttingen
Basisgruppe Informatik Göttingen
Basisgruppe Jura Göttingen
Basisgruppe Medizin Göttingen
Basisgruppe Physik Göttingen
Bildungswerk ver.di in Niedersachsen e.V., Region Göttingen
BIPoC-Kollektiv Göttingen
Café Kollektiv Kabale
Fachgruppe Ethnologie
Fachgruppe Politik Göttingen
Fachgruppe Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie Göttingen
Fachschaftsrat Sozialwissenschaften Göttingen
Institut für angewandte Kulturforschung e.V. (ifak)
Institut für Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie, Universität Göttingen
Kriethn@s – Kritische Ethnologie Göttingen
NS-Familien-Geschichte: hinterfragen – erforschen – aufklären e.V.

Arne Bischoff, Göttingen
Marieluise Küsgen, Jüdisches Lehrhaus Göttingen
Prof. Dr. Henning Melber, The Nordic Africa Institute, Uppsala
Lisa Ortwein, Göttingen
Leandra Scholz, Göttingen
Carsten Seydlowsky, Göttingen
Dr. Joachim Zeller, Berlin
Petra und Roland Zeyen, Geschichtswerkstatt Göttingen/Duderstadt

 

Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte direkt an: unigoeantikolonial@web.de

 

Stellungnahmen

Wir unterstützen die Kritik der Studierendengruppe an Aussagen und Darstellungen, die die gewaltvolle Kolonialgeschichte verschweigen und relativieren und rassistische Stereotype weiterverbreiten. Dass eine berechtigte Kritik an solchen Darstellungen unter Berufung auf das Hausrecht abgeschmettert wird und werden kann, passt nicht zum Selbstverständnis der Universität. Dass dieser Maßstab auch bei Veranstaltungen von anderen Organisationen in universitären Räumen gelten sollte, scheint uns ausgesprochen wesentlich.

Für die Professor_innen und Mitarbeitende des Instituts für Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie
Regina F. Bendix, Geschäftsführende Direktorin

 

 

Update vom 29. Januar

Stellungnahme zum offenen Brief an das Göttinger Fernwehfestival,
Herrn Matthias Hanke und Lichtblicke e.V.
sowie das Präsidium der Universität Göttingen,
Prof. Dr. Reinhard Jahn vom 16.1.2020

Göttingen, den 29.01.2020

Sehr geehrter Herr Hanke,
sehr geehrter Herr Prof. Dr. Jahn,
sehr geehrte Damen und Herren,

seit unserem offenen Brief bezüglich rassistischer und kolonialverherrlichender Aussagen und den unbefriedigenden Reaktionen auf unsere Kritik auf dem Göttinger Fernwehfestival sind zwei Wochen vergangen. Wir freuen uns über die vielschichtige Unterstützung, die uns so viele Einzelpersonen, Institutionen und Gruppierungen entgegenbringen. Dass diverse an der Universität Tätige sich mit ihrem Namen für unhaltbare Zustände einsetzen, bestärkt und beruhigt uns.

Unerfreulich finden wir hingegen die Reaktionen, die wir seitens der Adressat_innen unseres Briefes erhalten haben. Hierzu möchten wir im Folgenden noch einmal detailliert Stellung nehmen. Am 17.1.20 wurde ein Artikel veröffentlicht, demzufolge die Geschäftsführerin von Abendrot Reisen „dem StadtRadio [Göttingen] mitteilte, dass sie sich in ihrem Vortrag mit ihrer Kollegin ausschließlich auf das touristische Südafrika und Namibia bezogen habe. Politische Aussagen seien dabei nicht getätigt worden. Ziel sei es gewesen, den Zuhörern die Leidenschaft für die beiden Länder zu vermitteln.“ Problematisch und geschichtsvergessen ist hier nicht nur die Idee, das touristische Südafrika/Namibia vom restlichen (historischen, politischen, etc.) trennen zu wollen – da einige „vorzeigbare“ Überbleibsel der Kolonialgeschichte des Landes im Vortrag sehr wohl und sehr explizit herausgestellt wurden. Völlig unkritisch einfach von einer „Leidenschaft für das Land“ zu sprechen, wo z.B. das „Südwesterlied“ angestimmt wird und People of Color einzig als Bedienstete gezeigt werden, zeugt von einer Haltung, die Überbleibsel aus kolonialrassistischem Gedankengut mehr als nahelegt. Eine Begeisterung für „einzigartigen Flair in fremden Ländern“[efn_note]www.abendrot-reisen.de (Werbetext Namibia-Reise)[/efn_note] bedeutet nämlich nicht, dass damit Rassismus bei denen ausgeschlossen werden kann, die sich zu dieser Begeisterung bekennen und nebenbei damit auch noch ihr Geld verdienen. Denn der Tourismus „lebt von der Anziehungskraft ‚fremder‘ Kulturen. Dabei verstecken sich in den Urlaubs-Beschreibungen der ‚bunten Einheimischen‘ und ‚ursprünglichen Lebensweisen‘ allzu oft Vorurteile und rassistische Stereotype. Im Tourismus zeigt sich das Überdauern und das permanente Neuformulieren rassistischer Weltbilder, die denen der Missionare, Forschungsreisenden und Kolonialherren oft bis ins Detail entsprechen.“[efn_note]www.iz3w.org/buch-cd-dvd/buecher/handgepaeckpdf[/efn_note] Da hilft es auch nicht, wenn sich das Unternehmen dann nochmal von „Rassismus, Diskriminierung und der Verherrlichung von Verbrechen aller Art“ distanziert – solcherlei Lippenbekenntnisse überzeugen uns nicht davon, dass unsere Kritik in irgend einer Weise ernst genommen und zukünftig berücksichtigt wird, geschweige denn von einem tiefergehenden Verständnis des Sachverhalts.

Hatten wir uns von der Reaktion der Abendrot-Angestellten nach unserem Diskussionsversuch kaum etwas anderes vorgestellt, so waren wir doch von der Resonanz von Herrn Hanke von Lichtblicke e.V., dem Veranstalter des Fernwehfestivals, in einer Mail an uns besonders enttäuscht.

Kein entschuldigendes Wort zu dem unverhältnismäßigen Hausverbot, stattdessen der – an dieser Stelle überhaupt nicht weiterführende – Hinweis, er habe den Vortrag nicht gesehen, sei noch nie in Namibia gewesen, sodass er zum konkreten Fall nichts sagen könne. Nicht einmal Abendrot Reisen bestreitet, dass das „Südwesterlied“ gesungen oder People of Color auf diese Art dargestellt wurden. Sich durch schlichte Abwesenheit aus der Affäre ziehen zu wollen, ist der Sache nicht angemessen. Es wäre beispielsweise ein Leichtes gewesen, bei uns oder anderswo mehr Informationen zum Sachverhalt zu gewinnen oder zumindest rückwirkend einzuräumen, dass ein Vortrag solcher Art nicht tolerabel ist – wenn nötig eben unter dem Vorbehalt, dass unsere Schilderungen Substanz haben.

Dass auch Herr Hanke an unserer berechtigten Kritik anscheinend kein Interesse hat, bewies nicht nur die (Nicht-)Kommunikation am Tag des Festivals, sondern auch der unreflektierte Mail-Kommentar, er könne sich „nicht vorstellen, dass sich ein Reisebüro rassistisch äußern würde. Schließlich leben sie davon, dass sie Menschen gewinnen, die ihre Reisen buchen.“ Gegenargument siehe oben. Weiterhin werden in seinem Schreiben absurder Weise (in Vortrag und Konflikt unbeteiligte) Dritte als Anti-Rassismus-Garanten angeführt, die natürlich durch ihre schlichte Anwesenheit irgendwo auf dem Festival keinen antirassistischen Schutzwall bieten können: „Allein schon vom Thema passt Rassismus nicht zu unserer weltoffenen Veranstaltung. Dies dokumentieren auch die teilnehmenden Infostände von Amnesty oder der Tibethilfe.“ Unter die Gürtellinie trifft aber besonders die infame Unterstellung Hankes, dass eine „Gruppe junger Leute“ (das sollen vermutlich wir sein?) den Stand des teilnehmenden Reisebüros „verwüstete“. Wir können uns diese schlicht falsche Behauptung nur so erklären, dass von unseren Inhalten und der Berechtigung unseres Anliegens abgelenkt werden soll, indem wir als randalierende Jugendliche abgestempelt werden. Die Mitnahme einiger ausgelegter Flyer (unsere einzige physische Interaktion mit dem Stand) kann wohl kaum als „Verwüstung“ begriffen werden. Die zu diesem Zeitpunkt anwesenden Security-Angestellten hätten sicherlich eine Aktion dieser Art zu verhindern gewusst.

Noch unbefriedigender als die Reaktionen von Abendrot Reisen & Herrn Hanke ist für uns das Ausbleiben jeglicher Positionierung seitens der Universitätsleitung. Anscheinend stellt es für das Präsidium keinen Widerspruch dar, mit einer ausgefeilten Diversitätsstrategie für die Universität zu werben und gleichzeitig kolonialverherrlichende Vorträge nicht nur zu billigen, sondern von diesen finanziell auch noch zu profitieren. Dass auch nach zwei Wochen unserem Anliegen nicht nachgegangen wird, steht für uns in einem scharfen Widerspruch zu im eigenen Leitbild verankerten Vorhaben, die Universität wolle „zur Verwirklichung der Gleichberechtigung und zur Überwindung aller […] Benachteiligungen beitragen“[efn_note]www.uni-goettingen.de/de/43883.html[/efn_note].

Jetzt erst recht fordern wir eine angemessene Reaktion seitens der Adressat_innen unseres offenen Briefes. Nachfolgend noch einmal unser offener Brief vom 16.1.2020 mit einer erfreulicherweise nochmals erweiterten Liste an Unterstützer_innen.

Maren Aldermann
Franziska Brugger
Anna Domdey
Liz Mathy
Fenna Schumacher
Simon Volpers
Friederike Wansing
Till Zander