Lehre in Zusammenarbeit. Gemeinsames Fazit zum Lehrexperiment mit Prof. Samuel Salzborn

Rückblick auf eine in Kooperation von Studierenden und Hochschullehrer gemeinsam organisierte Lehrveranstaltung

Im Winter 2014/15 veröffentliche der Fachschaftsrat Sozialwissenschaften ein Papier, in dem Kritik an Mängeln in der Lehre der Sozialwissenschaftlichen Fakultät geübt wurde. Aus Sicht des Fachschaftsrates bezog sich die Kritik unter anderem auf die Verschulung des Studiums, die Einschränkung der Freiheiten im Studienverlauf sowie die fehlende Kooperation und Kommunikation zwischen Lehrenden und Studierenden.

Da die Unzufriedenheit über die Qualität von Lehrveranstaltungen nicht nur von Studierenden, sondern auch von Lehrenden formuliert wird – möglicherweise aus unterschiedlichen, möglicherweise aber auch aus identischen Gründen – entschied sich Samuel Salzborn (aus dessen persönlicher Sicht das zentrale Manko in Lehrveranstaltungen in einer mangelnden Lesebereitschaft und einem zu geringen Engagement vieler Studierender besteht), den Fachschaftsrat anzusprechen und eine gemeinsame Lehrveranstaltung zu organisieren, in der (so frei, wie irgend möglich) dialogorientiert ausprobiert werden sollte, ob hypothetische Vorstellungen über eine Verbesserung der Lehrqualität praktisch umsetzbar sind. Dem Lehrenden war dabei klar, dass eine gewisse Unklarheit bestehen bleiben würde, weil die Studierenden, die sich im Fachschaftsrat engagieren, ja i.d.R. genau diejenigen sind, auf die seine Kritik nicht zutrifft.

Der Fachschaftsrat ging auf diesen Vorschlag ein, so dass es zu mehreren gemeinsamen Treffen zur Vorbereitung eines Seminars kam; da die Lehrveranstaltungsplanung schon abgeschlossen war, konnten nur zwei bereits feststehende Themen mit ebenfalls feststehenden Seminarzeiten ausgewählt werden, d.h. der Fachschaftsrat hatte keine Mitsprachemöglichkeit bei der Themenwahl. Von den beiden möglichen wählte der Fachschaftsrat das Seminar „Rechtsextremismus und Religion“, über dessen konkrete Ausgestaltung keine Vorgaben durch den Lehrenden gemacht wurden.

Wir haben im Vorfeld gemeinsam den Kommentartext der LV formuliert, wobei wir uns schwerpunktmäßig haben davon leiten lassen, was Themen sind, die die Studierende, die an der Vorbereitung beteiligt waren, spannend fanden und gern im Seminar behandelt wissen wollten. In den Kommentar zur LV wurde ebenfalls aufgenommen, dass das Seminar experimentellen Charakter haben würde und Flexibilität bei den teilnehmenden Studierenden erwartet werde. Zur ersten Seminarsitzung existierte kein Themenplan und keine weitere formale Vorgabe zum Ablauf – außer der, dass alles, was im Seminar methodisch und didaktisch entwickelt würde, mit der Modulbeschreibung konform gehen müsse.

In der ersten Seminarsitzung haben alle anwesenden Studierenden ihre Erwartungen skizziert, mit besonderem Fokus auf die Themen, die sie persönlich interessieren würden. Der Lehrende hat – dies war ein ausdrücklicher Wunsch des Fachschaftsrates im Vorfeld – nachdrücklich darauf hingewiesen, dass er in Sprechstunden und auch sonst für alle ansprechbar sei, was – zur Überraschung des Lehrenden – dann auch tatsächlich dazu führte, dass Studierende deutlich intensiver vom ohnehin bestehenden Angebot der Einzel- oder Gruppengespräche Gebrauch gemacht haben. Ebenfalls freigestellt wurde den Studierenden in der ersten Sitzung die Form ihrer mündlichen Leistung, die jede denkbare Variante (also nicht nur das „klassische“ Referat mit Präsentation) haben konnte und durfte, allerdings verbunden mit der Anforderung durch den Lehrenden, dass die Referatsgruppen neben ihrem Referat dann auch eine Verantwortlichkeit in den jeweiligen Einzelsitzungen aktiv wahrnehmen sollten.

Nach der ersten Sitzung haben alle Studierenden sich beim Lehrenden gemeldet, konkrete Vorschläge für ihre Wunschthemen formuliert und Ideen für eine methodisch-didaktische Umsetzung entwickelt. Auf dieser Basis hat der Lehrende einen vorläufigen Seminarablaufplan geschrieben, der in der zweiten Seminarsitzung diskutiert und im Wesentlichen dann auch so durchgeführt wurde. Leitbildgebend bei der Ablaufplanung war einerseits eine historische und andererseits eine systematische Strukturierung der Themen, d.h. die Themen wurden einerseits (möglichst) in historisch korrekter Reihenfolge behandelt und andererseits zudem (möglichst) systematisch sinnvoll gruppiert. Im Laufe des Semesters gab es mehrere Feedbackrunden zum Seminarablauf.

Am Ende des Seminars wurde neben der formalisierten Lehrevaluation sowohl im Seminar, wie auch separat vom Fachschaftsrat (ohne den Lehrenden) über positive und negative Aspekte im Ablauf diskutiert.

  1. Im Seminar wurde als positiv beschrieben, dass die Form der Referate entsprechend des Inhaltes gewählt werden konnte. Dadurch wurden vor allem die Interessen der Studierenden berücksichtigt. Die Einbindung der Studierenden hat sowohl beim Aufbau als auch bei der Referatswahl und somit bei der inhaltlichen Schwerpunktsetzung stattgefunden. Dieses Vorgehen konnte eine Langzeitmotivation durch Behandlung eigener Interessen herstellen. Die Referate wurden mit erhöhtem Elan vorbereitet, meistens wurde sich in der Vorbereitung sehr große Mühe gegeben.
    Ebenfalls feststellbar war eine höhere mündliche Beteiligung. Der Dozent war bemüht eventuelle Hierarchien zwischen Lehrenden und Studierenden abzubauen, was wieder zu einem erhöhten Redeanteil der Studierenden führte. Allgemein gestaltete sich die Diskussionskultur im Seminar sehr angenehm. Grundsätzlich hat die Teilnehmendenzahl weniger stark abgenommen als in vergleichbaren Seminaren und kann als konstant beschrieben werden.
    Als negativ in der Seminarreflektion wurde die Länge der Referate beschrieben. Diese gestalteten sich zum Teil sehr gedehnt. Die inhaltliche Qualität weniger Referate war nicht besonders hoch. Zudem war die Gestaltung der Ergebnissicherung der einzelnen Sitzungen unklar.
    Verbesserungsvorschläge, die von Studierendenseite in der abschließenden Seminarsitzung formuliert wurden, bestanden darin, dass in Bezug auf die Referate darauf geachtet werden sollte, dass am Ende genug Zeit für eine offene Diskussion bleibt. Eventuell wäre auch Einführungslektüre zu verschiedenen Referatsformen bzw. didaktischen Konzepten sinnvoll, um vom Konzept Frontalreferat und Diskussion wegzukommen. Das Angebot vertiefender Lektüre zu den einzelnen Themen wäre angenehm.
  2. Der Fachschaftsrat und damit die an der Vorbereitung aktiv beteiligten Studierenden stellten als positiv heraus, dass die Studierenden stark in die Themenfindung eingebunden wurden. Zusätzlich hat der Dozent das Seminar z.B. durch historische Anmerkungen strukturiert. Positiv war außerdem, dass die Form der Prüfungsleistung z.T. frei wählbar war. Durch die lockere Atmosphäre im Seminar fanden gute Diskussionen statt. Das Seminar hat durch die Zurückhaltung des Dozenten zum eigenständigen Denken angeregt.
    Leider fehlte an einigen Stellen ein roter Faden im Seminar, was aber auch am Thema liegen könnte. An einigen Stellen blieb das Seminar relativ oberflächlich, was auch am unterschiedlichen Wissensstand und Vorwissen der Teilnehmenden lag. Evtl. hätte an diesen Stellen durch den Dozenten mehr in den Ablauf der Sitzungen eingegriffen werden müssen. Auch haben sich an den Diskussionen oft die gleichen TeilnehmerInnen beteiligt.
    Vertiefende Literatur sollte zu den einzelnen Themen zumindest genannt werden. Dadurch könnte das Niveau der Diskussionen angehoben werden und das Interesse am Seminar gesteigert werden.
    Didaktische Hilfestellung zu Beginn des Seminars wäre ebenfalls wünschenswert. So könnte Abwechslungsreichtum in den Referaten sichergestellt werden.
    Zusätzlich wäre es sinnvoll, wenn der Dozent das Ergebnis und/oder die Diskussionsstränge der letzten Sitzung zu Beginn der nächsten Sitzung wiederholt.
  3. Aus Sicht des Lehrenden ist rückblickend eine Ambivalenz festzuhalten, die darin besteht, dass die Seminarvorbereitung und Seminarbegleitung deutlich zeitintensiver und arbeitsaufwändiger war, als bei Lehrveranstaltungen, die man selbst komplett (vor-)plant, dafür aber das Engagement bei den Studierenden und die individuellen Leistungen, auch in Gruppenarbeit, ebenfalls deutlich höher waren, als in komplett vorstrukturierten Seminaren.
    Die von den Studierenden formulierte Kritik an einzelnen (wenigen) Referaten wird zwar geteilt, scheint aber mit Blick auf das insgesamt hohe Niveau verschmerzbar. Aufschlussreich aus Sicht des Lehrenden, gerade auch mit Blick auf die Kritik, ist das Moment, mit einem hohen Maß an Freiheit umgehen zu lernen: der Lehrende hat sich bewusst aus den Überlegungen zur konkreten methodisch-didaktischen Gestaltung der Sitzung herausgehalten und immer nur dann „eingegriffen“, wenn die Studierenden ihn um konkrete Unterstützung gebeten haben. Die Frage der Ergebnissicherung haben wir ebenfalls mehrfach diskutiert – aus Sicht des Lehrenden allerdings ohne ein Ergebnis, das nicht Einwände zurückgelassen hätte: dem Vorschlag, dass diese Ergebnissicherung Aufgabe des Lehrenden sei, stand der Einwand entgegen, damit die möglichst offene Gestaltung des Seminars durch ein faktisch hierarchisches Schlusswort zu unterlaufen, der Idee, dass dies Aufgabe der Referatsgruppe sei, das Bedenken, dass dies eine Überforderung der eigenen Rolle bedeuten könnte. Der Vorschlag von Studierendenseite, die Ergebnissicherung durch die Referatsgruppen vornehmen zu lassen und hierfür stud.ip zu nutzen, wurde teilweise aufgegriffen.
    Ein von allen Beteiligten (Studierenden aus dem Seminar, aus der Vorbereitungsgruppe und dem Lehrenden) gemeinsam empfundener Kritikpunkte wurde zwar etwa in der Mitte des Seminars formuliert, aber bis zuletzt nicht geändert, was Anlass für weitere Reflexionen sein könnte: alle Referate wurden ausnahmslos als Frontalpräsentationen gehalten (was von jeder Referatsgruppe frei gewählt und nicht formal eingeschränkt worden war), was zumeist zu einer deutlichen Überlänge der Referate führte, aber zugleich auch zu einer – offenbar, so die Einschätzung des Lehrenden, aufgrund der jeweils attestierbaren persönlichen Bereitschaft, sich aufgrund des konkreten Interesses am Thema mit diesem auch intensiv zu befassen und gut bis sehr gut vorzubereiten – ungewöhnlich hohen inhaltlichen Qualität fast aller Referate. So blieb das Dilemma aus durchgehendem inhaltlich hohem Niveau der Referate bei ebenfalls durchgehend kontinuierlicher Anwesenheit und aktiver Beteiligung von im Prinzip dem gesamten Seminar in Verbindung mit zu langen Frontalreferaten bestehen.

Für weitere Überlegungen anzumerken ist auch, dass das konkrete Modul, in dem die LV angeboten wurde, einen vergleichsweise großen Handlungsspielraum ermöglicht, was allerdings nicht als vorschnelles Argument missverstanden werden sollte, dass damit die Erprobung von Freiheit (und den Herausforderungen, die sie auch bedeutet) nicht auch in vielen anderen Modulen möglich sein kann. Möglicherweise könnte unter der Überschrift Lehrfreiheit in Zeiten von Bologna weiter über Möglichkeiten diskutiert werden, die zugleich Motivation wie Qualität von universitärer Lehre verbessern helfen. Denn trotz aller Kritik – und auch der Mehrarbeit, die die Veranstaltungsform für alle Beteiligten bedeutet hat – sind sich Studierende und Lehrender darin einig, dass das Experiment dieses Seminars ein erfolgreicher Schritt auf einem Weg war, den man weiter verfolgen sollte.

17. November 2015

Der Fachschaftsrat

Prof. Dr. Samuel Salzborn