Ein „metaphysisches Geheimnis“ an dem zu rütteln ist – Sozialwissenschaften und Nationalsozialismus

Ein Beitrag der Basisgruppe Sozialwissenschaften

Eines war für viele deutsche Sozialwissenschaftler*innen nach Kriegsende klar: Sozialwissenschaften hat es in der Zeit zwischen 1933 und 1945 in Deutschland nicht gegeben. Die Nationalsozialisten hätten, so der Mythos, verhindert, dass es Sozialwissenschaften geben konnte. Diese wiederum seien schon von vornherein kritisch gewesen. Mit diesem Entlastungsmythos verbunden war eine Abkehr vom Nationalsozialismus als Forschungsgegenstand der Sozialwissenschaften. Vom damaligen Vorsitzenden der „Deutschen Gesellschaft für Soziologie“ wurde dies 1946 so gefasst:

„Und doch kam die Pest [der Nationalsozialismus; BG SoWi] über die Menschen von außen, unvorbereitet, als ein heimtückischer Überfall. Das ist ein metaphysisches Geheimnis, an das der Soziologe nicht zu rühren vermag.“[note]Wiese 1948: 29[/note]

Für die Erforschung des Nationalsozialismus war dadurch lediglich das neu geschaffenen Fach Zeitgeschichte zuständig. So wundert es nicht, dass der Nationalsozialismus nur in einigen wenigen Arbeiten Gegenstand der Soziologie geworden ist[note]Vgl. Christ 2011, z.B. Dahrendorf 1967, Elias 2002[/note]. Im Folgenden möchten wir überblicksmäßig das schwierige Verhältnis der deutschen Sozialwissenschaften zum Nationalsozialismus darstellen.

Erst seit den 1980ern ändert sich diese Inszenierung der eigenen Vergangenheit der Sozialwissenschaften während des Nationalsozialismus. In verschiedenen sozialwissenschaftlichen Fächern entstehen, getrennt voneinander, Arbeiten zur Fachgeschichte im Nationalsozialismus.[note]Für die Soziologie: Klingemann 1981, 1986, 2014, für die Pädagogik: Keim 1995, Keim 1997, für die Politikwissenschaft: Eisfeld 1991, Eisfeld/Buchstein 2013[/note] Im Zuge dieser Aufarbeitung setzt sich die Erkenntnis durch, dass es sehr wohl sozialwissenschaftliche Forschung im Nationalsozialismus gegeben hat. Idealtypisch lässt sich diese Forschung in zwei Bereiche einteilen, zum Ersten die ideologische Unterstützung des Regimes,[note]z.B.: Eisfeld 2013: 119ff[/note] zum Zweiten die konkrete Mitarbeit an Maßnahmen der Organisation der nationalsozialistischen Herrschaft.[note]z.B.: Gutberger 1996, Roth 1987[/note] Damit leistet die Forschung zu Sozialwissenschaften im Nationalsozialismus einen zunehmenden Beitrag zur Frage nach der Beteiligung der Bevölkerung an der nationalsozialistischen Herrschaft, welche in den letzten Jahren zum zentralen Gegenstand der Forschung zum Nationalsozialismus geworden ist.[note]z.B.: Bajohr/Wildt 2012[/note] Erst seit den 1980ern ändert sich diese Inszenierung der eigenen Vergangenheit der Sozialwissenschaften während des Nationalsozialismus. Außerdem wird seit 2011 über die Rolle, die der Nationalsozialismus in der soziologischen Forschung (nicht) spielt diskutiert.[note]Becker 2014; Christ 2011; Deißler 2013; Heinze 2013; Deißler 15.05.2013; Kühl 08.05.2013; Mayntz 15.05.2013; Kranebitter/Horvath 2015[/note]

Besonders deutlich hat sich die Vernachlässigung des Nationalsozialismus in den Sozialwissenschaften an der Debatte über Theodor Eschenburg, die seit 2011 in der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft (DVPW) geführt wird, gezeigt. Theodor Eschenburg gilt als einer der Begründer der Politikwissenschaft in Deutschland. Er war einer der ersten Lehrstuhlinhaber und publizierte viele Artikel über aktuelle politische Themen in der Wochenzeitschrift „Die ZEIT“. 1999 beschlossen Vorstand und Beirat der DVPW den Preis für das Lebenswerk der DVPW nach Theodor Eschenburg zu benennen. Im Jahr 2003 wurde dieser Preis dann erstmals vergeben. 2011 konnte Rainer Eisfeld in einem Artikel[note]Eisfeld 2011b[/note] zeigen, dass Theodor Eschenburg in mindestens einem Fall an einer „Arisierung“ beteiligt war. Der jüdische Unternehmer Wilhelm Fischbein wurde nach tatkräftiger Unterstützung Eschenburgs enteignet . Verschärft wurde die, mit Eisfelds Artikel in Gang gesetzte Debatte, durch die Dankesrede Claus Offes zur Preisverleihung 2012. Der Preisträger Offe monierte, dass Eschenburg durch seine Beteiligung am Nationalsozialismus, besonders aber sein Verschweigen dieser Vergangenheit und sein lediglich publizistisches Wirken kein Vorbild für junge Generationen von Politikwissenschaftler*innen sein könne. Mittlerweile sind weitere Beteiligungen Eschenburgs an der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik bekannt geworden. So konnte Anne Rohstock zeigen, dass Eschenburg während des Krieges routinemäßig mit „Arisierungen“ befasst war und dabei eine übermäßige Beflissenheit entwickelte.[note]Rohstock 2015[/note] Die Eschenburg-Debatte selbst zeichnete sich durch massive Anschuldigungen der Verteidiger Eschenburgs gegen diejenigen, die seine Vergangenheit aufgedeckt hatten, aus. Vorgeworfen wurden hauptsächlich zwei Punkte: Erstens, es werde nicht beachtet, dass Eschenburg sehr viel nach 1945 geleistet hätte. Zweitens, seine Handlungen während des Nationalsozialismus müssten mit anderen Maßstäben bewertet werden. Hier berufen sich die Verteidiger*innen Eschenburgs besonders auf dessen Äußerungen über Hans Globke.[note]Eschenburg 1961[/note] Dagegen wurde von Seite der Eschenburg Kritiker*innen eingewandt, dass dessen Leistungen nach 1945 durch seine Verteidigung von Nazi-Funktionären in seinem publizistischen Wirken (hier besonders Hans Globke, Graf Schwerin von Krosigk und Ernst von Weizsäcker) geschmälert werden. Außerdem gäbe es sehr wohl Maßstäbe, die Kritik an Eschenburgs Beteiligung am Nationalsozialismus ermöglichen. Mittlerweile ist ein Sammelband von Rainer Eisfeld erschienen, der die wichtigsten Beiträge und eine Zusammenfassung der Debatte enthält.[note]Eisfeld 2016, BG SoWi 2014[/note]

In den letzten Jahren entwickelte sich eine immer intensivere Auseinandersetzung mit der Geschichte der Sozialwissenschaften im Nationalsozialismus. Allerdings erregten die verschiedenen Debatten seit 1945 immer wieder die Gemüter. In den letzten Jahren ist allerdings ein Anstieg der Veröffentlichungen von Arbeiten über Sozialwissenschaften im Nationalsozialismus zu verzeichnen. Zusätzlich wird der Nationalsozialismus selbst immer mehr Gegenstand von historisch arbeitenden Sozialwissenschaften.[note]Eine Bestandsaufnahme liefert: Christ/Suderland 2014[/note] Über die konkrete Frage nach Sozialwissenschaften im Nationalsozialismus hinaus, zeichnet sich die Debatte dabei durch eben jene Forderung aus, Sozialwissenschaften historisch zu betreiben.[note]Eisfeld 2011a[/note]

Wie dargestellt, haben Sozialwissenschaftler*innen begonnen, an dem „metaphysischen Geheimnis“ zu rütteln. Dabei hat sich gezeigt, dass sich Sozialwissenschaftler*innen am Nationalsozialismus beteiligt haben. Die sozialwissenschaftliche Erforschung des Nationalsozialismus hat sowohl die Erforschung des Nationalsozialismus bereichert, als auch die sozialwissenschaftliche Forschung per se. Es bleibt zu hoffen, dass das kritische Interesse an dem Thema Sozialwissenschaften im Nationalsozialismus bestehen bleibt.

 

Literaturhinweise

Abschließend wollen wir noch einige Literaturhinweise nennen, die bei der Beschäftigung mit Sozialwissenschaften im Nationalsozialismus helfen können.
Einige einführende Artikel finden sich auf unserer Sonderseite: http://bgsowi.blogsport.de/sozialwissenschaften-und-nationalsozialismus/

Soziologie:

  • van Dyk, Silke/Schauer, Alexandra/Haubner, Lena (2015): »… daß die offizielle Soziologie versagt hat«. Zur Soziologie im Nationalsozialismus, der Geschichte ihrer Aufarbeitung und der Rolle der DGS. Springer Fachmedien Wiesbaden: Wiesbaden
  • und zur soziologischen Erforschung des Nationalsozialismus die verschiedenen Beiträge in: Christ, Michaela/Suderland, Maja [Hrsg.] (2014): Soziologie und Nationalsozialismus. Positionen, Debatten, Perspektiven. Suhrkamp: Berlin.

Politikwissenschaft:

  • Eisfeld, Rainer (2013): Ausgebürgert und doch angebräunt. Deutsche Politikwissenschaft 1920 – 1945. Nomos: Baden-Baden.

Pädagogik:

  • Horn, Klaus P./Link, Jörg-W. [Hrsg.] (2011): Erziehungsverhältnisse im Nationalsozialismus. Totaler Anspruch und Erziehungswirklichkeit. Verlag Julius Klinkhardt: Bad Heilbrunn.

Ethnologie:

Universitäten/Wissenschaft allgemein im Nationalsozialismus:

  • Tröger, Jörg [Hrsg.] (1984): Hochschule und Wissenschaft im Dritten Reich. Campus: Frankfurt, Hachtmann, Rüdiger (2008): Forschen für Volk und „Führer“. Wissenschaft und Technik. In: Süß, Dietmar/Süß, Winfried [Hrsg.]: Das Dritte Reich. Eine Einführung. Pantheon: München, S. 205–225
  • und klassisch: Ringer, Fritz K. (1983): Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarine 1890 – 1933. Klett-Cotta: Stuttgart.

 

Literaturverzeichnis

  • Bajohr, Frank/Wildt, Michael [Hrsg.] (2012): Volksgemeinschaft. Neue Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus. Fischer-Taschenbuch-Verl.: Frankfurt am Main.
  • Becker, Michael (2014): „Politik des Beschweigens. Plädoyer für eine historisch-soziologische Rekonstruktion des Verhältnisses der Soziologie zum Nationalsozialismus“, Soziologie, Jg. 43, S. 251–277.
  • BG SoWi (2014): Theodor Eschenburg und die Schwierigkeiten der modernen Politikwissenschaft. Die Politikwissenschaft im Spiegel ihrer Debatten über Nationalsozialismus. Online: http://bgsowi.blogsport.de/images/BGSoWi2014TheodorEschenburgunddieSchwierigkeitendermodernenPolitikwissenschaft.pdf [14.07.2016].
  • Christ, Michaela (2011): Die Soziologie und das „Dritte Reich“. In: Soziologie, 40, Heft 4, S. 407–431.
  • Christ, Michaela/Suderland, Maja [Hrsg.] (2014): Soziologie und Nationalsozialismus. Positionen, Debatten, Perspektiven. Suhrkamp: Berlin.
    Dahrendorf, Ralf (1967): Gesellschaft und Demokratie in Deutschland. Piper: München.
  • Deißler, Stefan (2013): „Geschichtslosigkeit als Gegenwartsproblem. Ein Schlaglicht auf die epistemologische Dimension der Debatte um den Ort des Nationalsozialismus in der Soziologie“, Soziologie, Jg. 42, S. 127–146.
  • Deißler, Stefan (15.05.2013): „Schlecht recherchierter Skandal“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, N4.
  • Eisfeld, Rainer (1991): Ausgebürgert und doch angebräunt. Deutsche Politikwissenschaft 1920 – 1945. Nomos-Verl.-Ges: Baden-Baden.
  • Eisfeld, Rainer (2011a): How Political Science Might Regain Relevance and Obtain an Audience. A Manifesto for the 21st Century. In: European Political Science, 10, Heft 2, S. 220–225.
  • Eisfeld, Rainer (2011b): Theodor Eschenburg. Übrigens vergaß er noch zu erwähnen… In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 59, Heft 1, S. 27–44.
  • Eisfeld, Rainer [Hrsg.] (2016): Mitgemacht. Theodor Eschenburgs Beteiligung an „Arisierungen“ im Nationalsozialismus. Springer VS: Wiesbaden.
  • Eisfeld, Rainer/Buchstein, Hubertus (2013): Ausgebürgert und doch angebräunt. Deutsche Politikwissenschaft 1920 – 1945. Nomos: Baden-Baden.
  • Elias, Norbert [Hrsg.] (2002): Studien über die Deutschen. Machtkämpfe und Habitusentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert. Suhrkamp: Frankfurt am Main.
  • Eschenburg, Theodor (1961): Globke im Sturm der Zeiten. In: Die ZEIT.
  • Gutberger, Hans-Jörg (1996): Volk, Raum und Sozialstruktur. Sozialstruktur- und Sozialraumforschung im „Dritten Reich“. Univ., Diss.–Göttingen, 1994. Lit: Münster.
  • Keim, Wolfgang (1995): Erziehung unter der Nazi-Diktatur. Band 1: Antidemokratische Potentiale, Machtantritt und Machtdurchsetzung. Wiss. Buchges.: Darmstadt.
  • Keim, Wolfgang (1997): Erziehung unter der Nazi-Diktatur. Band 2: Kriegsvorbereitung, Krieg und Holocaust. Wiss. Buchges: Darmstadt.
  • Klingemann, Carsten (1981): Heimatsoziologie oder Ordnungsinstrument? Fachgeschichtliche Aspekte der Soziologie in Deutschland zwischen 1933 und 1945. In: Lepsius, Mario R. [Hrsg.]: Soziologie in Deutschland und Österreich 1918-1945. Materialien zur Entwicklung, Emigration und Wirkungsgeschichte. Westdt. Verl: Opladen, S. 273–307.
  • Klingemann, Carsten (1986): Vergangenheitsbewältigung oder Geschichtsschreibung? Unerwünschte Traditionsbestände deutscher Soziologie zwischen 1933 und 1945. In: Papcke, Sven [Hrsg.]: Ordnung und Theorie. Beiträge zur Geschichte der Soziologie in Deutschland. Wiss. Buchges: Darmstadt, S. 223–279.
  • Klingemann, Carsten (2014): Die Verweigerung der Analyse des Nationalsozialismus in der westdeutschen Soziologie. Zur Kontinuität empirischer Soziologie vor und nach dem Ende des NS-Regimes. In: Christ, Michaela/Suderland, Maja [Hrsg.]: Soziologie und Nationalsozialismus. Positionen, Debatten, Perspektiven. Suhrkamp: Berlin, S. 480–507.
  • Kranebitter, Andreas; Horvath, Kenneth (2015): „National socialism and the crisis of sociology“, Österreichische Zeitschrift für Soziologie, Jg. 40, S. 121–128.
  • Kühl, Stefan (08.05.2013): „Ein letzter kläglicher Versuch der Verdrängung“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, N4.
  • Mayntz, Renate (15.05.2013): „Kein Fall von Vernachlässigung“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, N4.
  • Rohstock, Anne (2015): Vom Anti-Parlamentarier zum „kalten Arisierer“ jüdischer Unternehmen in Europa. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 63, Heft 1, S. 33–58.
  • Roth, Karl H. (1987): Städtesanierung und „ausmerzende“ Soziologie. Der Fall Andreas Walther und die „Notarbeit 51“ der „Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft“ 1934-1935 in Hamburg. In: Klingemann, Carsten [Hrsg.]: Rassenmythos und Sozialwissenschaften in Deutschland. Ein verdrängtes Kapitel sozialwissenschaftlicher Wirkungsgeschichte. Westdt. Verl: Opladen, S. 370–393.
  • Schmaler, Dirk (2013): Die Bundespraesidenten und die NS-Vergangenheit – zwischen Aufklaerung und Verdraengung. Peter Lang: Frankfurt am Main e.a.
  • Wiese, Leopold von (1948): Die gegenwärtige Situation, soziologisch betrachtet. Erster Vortrag. In: Verhandlungen des Achten Deutschen Soziologentages vom 19. bis 21. September 1946 in Frankfurt a.M. Vorträge und Diskussionen in der Hauptversammlung und in den Sitzungen der Untergruppen. Mohr: Tübingen, S. 20–41.